Wie vermeidet man Nesselsucht durch Stress?

Patienten mit Nesselsucht berichten oft von Nesselsucht durch Stress. Aber ist diese Beobachtung überhaupt korrekt? Und wenn ja, was sind die wichtigsten Auslöser und wie vermeidet man sie? Darüber sprach MeinAllergiePortal mit Dr. med. Christian Hentschel, Allergologe, Psychotherapeut, Allgemeinmediziner und Experte für Naturheilverfahren in Düsseldorf.

Dieser Beitrag wurde medizinisch geprüft →

Interviewpartner: Dr. med. Christian Hentschel

Autor: Sabine Jossé M.A.

Herr Dr. Hentschel, kann Stress die Ursache für Nesselsucht sein? 

Ob Stress die Ursache für die Urtikaria sein kann, kann ich nicht sagen. Was mir jedoch klar zu sein scheint ist, dass eine übermäßige Belastung seelischer und körperlicher Art sicher der Auslöser bzw. Trigger einer Nesselsucht sein kann. Auch bestehende Pollenallergien scheinen eine Rolle zu spielen. Ich beschäftige mich jetzt seit 35 Jahren mit der Urtikaria. Dabei habe ich festgestellt, dass Menschen mit sogenannten Typ-I-Allergien, also zum Beispiel Pollenallergien oder Nahrungsmittelallergien, häufiger zu Urtikaria neigen als Patienten ohne diese vorbestehenden Erkrankungen.

Kommt die Nesselsucht dann von der Allergie oder vom Stress?

Wenn bei Allergikern bewusste oder unbewusste Konflikte auftreten, kommt es einfach zu einer häufigeren Ausbildung einer Urtikaria als bei Menschen, die im seelischen Gleichgewicht sind. Was hier Henne oder Ei ist, lässt sich nicht sagen. Das spielt auch im täglichen Praxisalltag keine wesentliche Rolle. Wichtig ist, dass den Patienten von ärztlicher Seite Hinweise gegeben werden, dass auch Belastungen wie Stress immer ein Auslöser für die Urtikaria sein können.

Wann ist Stress der Auslöser für Nesselsucht und wann nicht?

Das lässt sich nicht so einfach bestimmen. Als ich vor 35 Jahren im Asthma- und Allergiekrankenhaus in Mönchengladbach meine Ausbildung machte, wurden die Nesselsucht-Patienten noch wochenlang auf alle möglichen allergologischen Ursachen hin getestet. Aber: Bisher habe ich in diesen drei Jahrzehnten noch nie einen Patienten getroffen, bei dem ein einzelner allergologischer Auslöser die Ursache der Urtikaria war. Was allerdings sehr evident ist, ist die Tatsache, dass sich bei näherer Betrachtung und gezielter psychosomatischer Anamnese, häufig seelische Belastungsfaktoren finden, die mögliche Ursachen sein könnten.

Seelische Belastungsfaktoren sind generell häufige Phänomene, kann man sagen, warum diese bei manchen Menschen zu Symptomen führen und bei anderen nicht?

Jeder Mensch reagiert auf psychische Belastung anders. Dies liegt daran, dass wir unterschiedliche Widerstandsfähigkeiten haben. Gerne wird auch von Resilienz gesprochen. Manche Menschen sind charakterlich so beschaffen, dass sie äußerst widerstandsfähig gegen Belastung sind. Andere leiden schon unter den geringsten Problemen. Dies ist eine Charakterfrage und kann auch mit der Biografie der Patienten zu tun haben. Wer schon schwere Schicksalsschläge erlebt hat, der hat sicherlich ein anderes Nervenkostüm als jemand der noch keine gravierenden Belastungen im Leben erlebt hat.

Wie unterscheidet sich Nesselsucht, die vom Stress ausgelöst wird, von Nesselsucht durch andere Trigger?

Das typische Erscheinungsbild der Nesselsucht auf der Haut unterscheidet sich nicht nach den Ursachen. Vielmehr zeigt sich Nesselsucht, egal was die Auslöser sind, durch eine einheitliche Darstellung der Erscheinungen auf der Haut in Form von roten erhabenen Quaddeln. Auch die Körperstellen, die betroffen sind, wenn Stress der Nesselsucht-Auslöser ist, sind die gleichen, wie bei einer nicht stressbedingten Nesselsucht.

Nesselsucht durch Stress unterscheidet sich nicht von anderen Ursachen!

Bildquelle: Dr. med. Christian Hentschel

Urtikaria-Patienten berichten häufig auch von Nesselsucht abends oder nachts, kann das auch stressbedingt sein, in dieser Zeit hat man doch weniger Stress?

Abends oder nachts, besonders unter der warmen Bettdecke, kommt es sehr häufig zu Urtikaria. Dies hat jedoch nichts mit dem Auslöser Stress zu tun, sondern hier induziert die Wärme das Auftreten der Nesselsucht.

Was genau sind die typischen Auslöser, wenn Stress Nesselsucht auslöst?

Nach meiner Erfahrung stellen insbesondere unbewusste Konflikte aus der Kindheit häufige Auslöser für die Urtikaria dar. Kommt es dann zusätzlich noch zu einer aktuellen Konfliktsituation, also zu akutem Stress, kann sich die Urtikaria ihren Weg bahnen. In so einem Fall ist meines Erachtens aber nicht die aktuelle Konfliktsituation, sondern der langjährig zurückliegende unverarbeitete Konflikt der Trigger. Aber auch aktueller Stress, das heißt eine akute seelische oder körperliche Belastungssituation, kann Urtikaria triggern.

Das sind klassische Beispiele für Stress, der Urtikaria auslösen kann:

• zu hohe Arbeitsbelastung
• Konflikte in der Partnerschaft
• Lebensstil

Die seelischen Belastungen eines Menschen können so vielfältig sein, dass sie hier gar nicht in voller Gänze aufgeführt werden können. Wichtig wäre, dass der behandelnde Arzt dies weiß und den Patienten gegebenenfalls einer entsprechenden Therapie zuführt.

Wann kann der Lebensstil der Auslöser für Nesselsucht sein?

Zu viel Alkohol, Zigaretten, ständige Suche nach Highlights und Konsum von Drogen haben Einfluss auf die Gesundheit. Ausgewogenheit von Anspannung und Entspannung sind wichtige Voraussetzungen um ins Gleichgewicht zu kommen.

Kann es auch bei Kindern, Kleinkindern oder Babys durch Stress zu Nesselsucht kommen?

Nun, ich habe zwar meine Ausbildung in der Allergologie im Fach der Kinderheilkunde gemacht, aber ich kann nichts über Stress bei Kleinkindern bzw.  Babys im Zusammenhang mit Urtikaria sagen. Hier spielen meines Erachtens auch Infekte eine wesentliche Rolle.

Wenn Stress Nesselsucht triggert, wie schnell nach einer Stress-Situation kommt es zu Nesselsucht?

Wie schnell es nach einer Stress-Situation zu Nesselsucht kommt, kann sehr variabel sein. Ich habe hier Patienten in meiner Praxis, die 23 Monate nach einer stattgehabten länger andauernden Belastung eine Urtikaria entwickelt haben. Es gibt aber auch Patienten, die nach einem kindlichen Trauma, Missbrauch oder einfach dem „nicht geliebt sein“ in der Kindheit, viele Jahrzehnte danach, eine Urtikaria entwickeln.

Wie kann man stressbedingte Nesselsucht behandeln?

In unserer Praxis werden Patienten, wenn sie eine psychisch belastende Anamnese haben und dazu eine chronische Urtikaria, möglichst adjuvant, das heißt „unterstützend“, mit Psychotherapie behandelt. Dabei wird, individuell auf den Patienten abgestimmt, ein multimodales Konzept eingesetzt, das auch den Einsatz monoklonaler Antikörper, also Biologika, umfasst. Ich beginne die Urtikaria-Therapie unterschwellig auf der niedrigsten Therapie-Ebene, muss dann aber manchmal auch unterstützende Medikamente einsetzen.

Hilft Homöopathie bei Stress durch Nesselsucht?

Diese Frage ist „ein heißes Eisen“. Ich habe fünf Jahre an der Universitätsklinik in Erlangen in der Arbeitsgruppe für Naturheilverfahren unter der Leitung von Prof. Dr. Hahn wissenschaftliche Arzneimittelstudien durchgeführt. Weiterhin war ich für die Zulassung als stellvertretendes Mitglied im Bundesgesundheitsministerium und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte in der Kommission E tätig. Ich habe also eine sehr große Erfahrung, was wissenschaftliches Arbeiten in der Komplementärmedizin angeht. Dabei komme ich allerdings zu dem Schluss: Einen Nachweis durch wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit von Naturheilkunde, Homöopathie oder Komplementärmedizin zur Behandlung der Urtikaria gibt es nicht. Aber hier in der Praxis sieht die Welt ganz anders aus, und in bestimmten Fällen setze ich diese Methoden ein.

Heißt das, man kann zur Behandlung der Nesselsucht alternative Therapien wie Homöopathie einsetzen?

Im Rahmen einer ganzheitlichen leitliniengerechten Therapie können alternative Heilmethoden bei Nesselsucht begleitend sinnvoll sein. In meine Praxis kommen täglich fünf Urtikaria Patienten, die um Hilfe bitten, zum Teil aus ganz Deutschland. Diesen Menschen kann ich nichts von den mangelnden Studien und nicht evaluierten Therapeutika erzählen, sondern sie kommen um Hilfe zu finden. So fangen wir sehr häufig mit einer niederschwelligen, einer homöopathischen Therapie an, sehr wohl wissend, dass dies spezifische oder auch eben unspezifische Placeboeffekte haben kann. Wir verwenden hier, wie man schon erraten kann, natürlich die Heilpflanze Urtika, also die Brennnessel. Die Therapie wird intramuskulärer mit einer Injektion durchgeführt.

Wie wirkt eine homöopathische Brennnessel-Therapie bei Nesselsucht?

Häufig zeigt sich bei einer homöopathischen Therapie mit Brennnessel gegen Nesselsucht tatsächlich zunächst eine Erstverschlimmerung, so wie das klassisch beschrieben wird. Das ist aber ein gutes Zeichen. Ohne eine Studie dazu durchgeführt zu haben schätze ich, dass mindestens 70 Prozent der Patienten die nächsten zwei Jahre nach der Therapie mit Brennnessel nicht mehr wegen der Urtikaria vorstellig werden. Fast 100 Prozent dieser Patienten waren bereits bei anderen Ärzten, ohne dass ihre Beschwerden gelindert werden konnten. Es wäre natürlich wünschenswert, wenn man dies einmal wissenschaftlich evaluieren könnte. Wichtig zu erwähnen ist noch, dass die Patienten vor Beginn der Brennnessel-Therapie alle Medikamente absetzen müssen.

Wie behandeln Sie bei einer stressbedingten Nesselsucht die seelischen Aspekte?

Als weitere Behandlung der Nesselsucht kann, wenn sich Hinweise auf eine seelische Belastung ergeben, eine Psychotherapie durchgeführt werden. Natürlich wird eine Psychotherapie nur nach einer medizinischen Indikation durchgeführt, denn das ist auch aus Kapazitätsgründen gar nicht regelhaft möglich. Auch hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich sehr viele Patienten unter dieser Therapie deutlich bessern.

Welche weiteren Therapiemöglichkeiten gibt es zur Behandlung der Nesselsucht?

Wenn alle bislang zum Einsatz gekommenen Therapien die Nesselsucht-Symptome nicht ausreichend kontrollieren können, greifen wir auch zur Therapie mit monoklonalen Antikörpern, zum Bespiel dem Antikörper Omalizumab. Dieser ist ein sogenannter Anti-IgE Antikörper. Diese Therapien sind bekanntermaßen sehr teuer und verursachen im Gesundheitssystem erhebliche Kosten. Dementsprechend würde eine solche Therapie zur Behandlung von Nesselsucht nicht von Anfang an eingesetzt werden. Zusammengefasst kann man sagen: Die Therapie einer Nesselsucht ist sehr vielgestaltig und wird individuell auf jeden einzelnen Patienten eingestellt.

Nochmals zum Thema Stress und Nesselsucht: Wie kann man den Stress reduzieren, so dass es dadurch nicht zu einer Nesselsucht kommen kann?

Das ist die 100.000,- $ Frage! Zuerst muss einmal unterschieden werden zwischen gesundem und krankmachendem Stress, man nennt das Eustress und Dysstress.

Was ist der Unterschied zwischen positivem Stress und krankmachendem Stress?

Es gibt sicherlich Formen von Stress, die ein positives Gefühl vermitteln, zum Beispiel wenn man einen guten Lauf bei der Arbeit hat, frisch verliebt ist, eine große Reise macht, ein schönes Essen vor sich hat und viele andere mit positivem Stress besetzte Dinge mehr. Daneben gibt es krankhaften Stress, zum Beispiel eine höhere Arbeitsbelastung, die man nicht mehr bewältigen kann, Druck aufgrund zu hoher Erwartungen, finanzielle Sorgen, Beziehungsprobleme usw.. Es gibt aber auch unbewusste Konflikte, die von bestimmten traumatischen Erfahrungen in der Kindheit herrühren. Diese nimmt der Patient nicht bewusst wahr, sie können das Leben aber in hohem Maße negativ beeinträchtigen.

Wie erkennt man krankmachenden Stress?

Um Stress, der krank macht, zu erkennen, sollte man sich klarmachen, welche Gefühle und Sensationen man am eigenen Körper bemerkt, wenn man Stress hat, denn dies kann ganz unterschiedlich sein. Manche Menschen bekommen bei Stress Kopfschmerzen, andere bekommen Migräne, wieder andere eine Nesselsucht oder eine chronische Blasenentzündung. Die Symptome sind sehr vielfältig.

Was kann man tun, wenn man erkannt hat, dass man unter negativem Stress leidet?

Der nächste wichtige Schritt wäre, sich bewusst zu machen, welche Faktoren, Situationen, Menschen oder Dinge stressauslösend sind. Dies schafft man häufig nicht alleine, weil die nötigen Instrumente fehlen. Aber auch lange Spaziergänge, vielleicht eine Meditationssauna oder Sport können dabei helfen, in das Unbewusste vorzudringen.

Herr Dr. Hentschel, herzlichen Dank für dieses Interview!