Schmerzhafte Bauchattacken: Hereditäres Angioödem am Darm?
Kommt es wiederholt zu regelrechten Bauchattacken mit extrem starken Schmerzen, könnte eine ernsthafte Erkrankung die Ursache sein. Viele Betroffene denken dann zunächst an eine Nahrungsmittelallergie. An die seltene Erkrankung „hereditäres Angioödem“ (HAE) denken die Patienten nicht und oft auch nicht die behandelnden Ärzt*innen - mit gravierenden Folgen für die Patienten. MeinAllergiePortal sprach mit Prof. Dr. med. habil. Bettina Wedi, Oberärztin und Leitung Dermatologische Tagesklinik, Allergologie, Labor Dermatologie/Allergologie; Vorsitzende des Comprehensive Allergy Center (MHH-AZ) an der Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie der Medizinischen Hochschule Hannover über das Thema: „Bauchattacken: Nahrungsmittelallergie oder hereditäres Angioödem?“.
Autor: Sabine Jossé M. A.
Interviewpartner: Prof. Dr. med. habil. Bettina Wedi
Frau Prof. Wedi, wann kann es beim hereditären Angioödem zu Bauchschmerzen kommen?
Beim HAE kann es dann zu Bauchschmerzen kommen, wenn die Schwellungen im Bauchraum des Patienten auftreten. Dabei handelt es sich dann aber um schwere gastrointestinale Attacken, nicht nur um Bauchschmerzen.
Was ist typisch für ein hereditäres Angioödem, das sich durch gastrointestinale Attacken zeigt?
Patienten mit HAE haben meist sogar häufiger gastrointestinale Attacken als Schwellungen der Haut, insbesondere im Kindesalter. Bei diesen Darmschwellungen kommt es zu freier Flüssigkeit im Bauchtraum und dies führt zu massiven Beschwerden. Die Patienten leiden dann starken unter Kolik-artigen Schmerzen. Aufgrund der starken Schmerzen kann sogar Bewusstlosigkeit eintreten. Weniger häufig kommt es zu Erbrechen und Durchfällen. Bei allergisch bedingten histaminvermittelten Angioödemen kommt es hingegen nicht zu Bauchattacken.
Die Schwellungen im Gatrointestinaltrakt sieht man ja nicht, haben HAE-Patienten mit diesen Beschwerden dann auch Schwellungen an der Haut?
Nein, die inneren und äußeren Schwellungen müssen bei Patienten mit hereditärem Angioödem nicht miteinander einhergehen. Häufig ist dies gerade nicht der Fall. Viel öfter haben diese HAE-Patienten dann manchmal eine Hautschwellung und manchmal eine Bauchattacke.
Das Problem ist, dass man bei Patienten mit Bauchattacken, gerade im Kindes- und Jugendalter, in der Regel nicht daran denkt, dass ein hereditäres Angioödem der Auslöser sein könnte.
Das hereditäre Angioödem wird also als Ursache von Bauchattacken oft nicht erkannt?
Oft denkt man bei Bauchattacken leider nicht an das hereditäre Angioödem, denn längst nicht alle Patienten haben eine positive Familienanamnese, das heißt, Betroffene in der Familie. Zwar ist HAE erblich, aber es gibt auch Neumutationen. In diesen Fällen sind die Betroffenen, gerade Kinder und Jugendliche, die ersten in der Familie, die solche Beschwerden haben und man zieht ein hereditäres Angioödem dann einfach nicht in Erwägung.
Wird das hereditäre Angioödem denn schneller erkannt, wenn die Bauchattacken nicht mit Hautschwellungen einhergehen?
Auch dann, wenn die Attacken ausschließlich im Magen-Darm-Bereich auftreten, und nicht mit Schwellungen an der Haut einhergehen, werden sie häufig erst sehr spät diagnostiziert. Es kann 10 Jahre und länger dauern, bis ein HAE-Patient die richtige Diagnose erhält. Nicht selten wurden diese Patienten dann auch schon mehrfach operiert, weil man die Bauchattacken auf andere Ursachen zurückgeführt hat. Vielen HAE-Patienten wurde z.B. der Blinddarm entfernt, weil man die Bauchschmerzen auf eine Appendizitis zurückgeführt hat.
Übrigens denken die Patienten bei Magen-Darm-Attacken selbst oft zuerst an eine Allergie.
Wie unterscheiden sich die Symptome einer Nahrungsmittelallergie von einem hereditären Angioödem im Bauchraum?
Die Nahrungsmittelallergie ist durchaus auch eine Differenzialdiagnose zum hereditären Angioödem. Bei Nahrungsmittelallergien fangen gastrointestinale Beschwerden meist im Mundbereich, mit einem oralen Allergiesyndrom an. Das ist nicht bei allen Patienten zwingend so, aber doch häufig der Fall. Beim hereditären Angioödem kommt es eher nicht zu Beschwerden im Mundbereich unmittelbar nach oder noch bei der Nahrungsaufnahme, dafür aber zu plötzlichen, schwersten Bauchschmerzen. Bei Nahrungsmittelallergien wiederum kommt es eher zu Durchfällen, Übelkeit und Erbrechen und weniger zu Bauchschmerzen solchen Ausmaßes. Bei einer Nahrungsmittelallergie sind in den meisten Fällen auch juckende Quaddeln vorhanden. Oft werden die Bauchattacken beim hereditären Angioödem z.B. für eine Blinddarmentzündung gehalten.
Wie unterscheidet sich eine Blinddarmentzündung von einer Bauchattacke beim hereditären Angioödem?
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Erkrankungen. Ein Merkmal der Bauchattacken beim hereditären Angioödem ist, dass bei einer akuten Sonographie ein Aszites, d.h. eine Bauchwassersucht, zu sehen ist. Man sieht dann die Darmschwellungen und den Flüssigkeitsaustritt aus den großen Gefäßen in die Bauchhöhle. Das heißt, man sieht eine Wasseransammlung bzw. Flüssigkeit im Bauchraum.
Müsste man das bei der Untersuchung der Patienten nicht deutlich sehen?
Nein, denn nicht immer werden Patienten mit schweren Bauchattacken im akuten Stadium sonographiert. Man denkt eher an eine Blinddarmentzündung, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung oder eine Eileiterschwangerschaft und nicht an HAE. Außerdem kann es manchmal auch bei einer ausgeprägten Entzündung zu Aszites, das heißt Bauchwassersucht, kommen. Man muss also bei der Sonographie an das Krankheitsbild HAE denken, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Eine Differenzierung wäre hier, dass bei Entzündungen auch die Entzündungsparameter im Blut erhöht sein müssten und es kann zu Fieber kommen, bei HAE ist das jedoch nicht der Fall. Beim HAE sind die Beschwerden am nächsten oder übernächsten Tag oft bereits verschwunden, man sieht die Flüssigkeit im Bauchraum nicht mehr und die Ursache wird nicht weiter untersucht.
Welche Konsequenzen hat es für die Patienten, dass die Bauchattacken oft nicht als hereditäres Angioödem erkannt werden?
Viele HAE-Patienten werden fälschlicherweise operiert, und man findet dann eben keine Entzündung. Ist die Flüssigkeit im Bauchraum resorbiert und die Bauchattacke vorüber, geht es den Patienten ja nach der Operation auch besser und man forscht nicht weiter nach. Hat der Patient dann ein Jahr später die gleichen Beschwerden, ist er vielleicht bei einem anderen Arzt oder in einem anderen Krankenhaus und die Ereignisse werden gar nicht in Verbindung gebracht. Wir haben einige Patienten, bei denen erst nach einem mehr als 10-jährigen Leidensweg die nötigen Blutuntersuchungen gemacht wurden, mit denen man ein hereditäres Angioödem diagnostizieren kann.
Wie kommt es, dass Ärzte bei Patienten mit Schwellungen oder Bauchattacken an das hereditäre Angioödem häufig nicht denken?
Das liegt daran, dass das hereditäre Angioödem eine seltene Erkrankung ist, die auch vielen Ärzten nicht bekannt ist. Viele Mediziner treffen nur ein einziges Mal in ihrer Laufbahn auf einen HAE-Patienten und dann ist es einfach nicht naheliegend, auf das hereditäre Angioödem zu untersuchen. Für die betroffenen Patienten ist dies ein großes Problem. Erst in den letzten Jahren wird die Erkrankung bekannter, auch deshalb, weil es heutzutage mehr Therapiemöglichkeiten gibt, die man früher in dieser Form nicht hatte.
Die wichtigste Maßnahme für eine effiziente Therapie von durch HAE verursachten Bauchattacken ist also die Diagnose?
Die Diagnose ist ausschlaggebend für die Wahl der Therapie. Bei den histaminvermittelten Angioödemen, die allergische bzw. pseudoallergische Ursachen haben, oder im Zusammenhang mit einer Urtikaria auftreten, sprechen die Patienten gut auf eine antiallergische Therapie an. Kortison, H1-Antihistaminika und im Zweifelsfall auch Adrenalin, wenn Schwellungen an der Mundschleimhaut oder Kreislaufreaktionen auftreten, wirken bei diesen Patienten sehr gut, insbesondere bei intravenöser Verabreichung.
Beim hereditären Angioödem bleiben diese Therapien jedoch wirkungslos, denn diese Angioödeme sind Bradykinin-vermittelt und beruhen auf einem C1-Inhibitor-Mangel.
Wie wird das hereditäre Angioödem als Ursache für schwere Bauchattacken diagnostiziert?
Zunächst muss man daran denken!
Bei wiederholten, unerklärlichen Bauchattacken und/oder Schwellungen, ohne Quaddelbildung sollte der behandelnde Arzt an die Möglichkeit eines hereditären Angioödems denken.
Zur Diagnose des hereditären Angioödems werden drei Blutwerte bestimmt:
- Die Aktivität des C-1-Inhibitors im Blutplasma
- Die Konzentration des C-1-Inhibitors im Blutplasma
- Die Komplementkomponente C4
Zeigen sich Auffälligkeiten, spricht dies für die Diagnose: hereditäres Angioödem.
Eine erneute Bestimmung der genannten Werte wird in den Leitlinien empfohlen, um eine Fehlbestimmung durch weniger erfahrene Labore auszuschließen. Die genannten Untersuchungen sind sehr sicher.
Wie behandelt man das hereditäre Angioödem?
Man kann das hereditäre Angioödem behandeln, indem man mit Hilfe von speziellen Konzentraten den C1-Inhibitor ersetzt oder mit einem Bradykinin-Rezeptor-Antagonisten die Wirkung des vermehrt vorhandenen Bradykinins blockiert. Die Konzentrate werden per Spritze intravenös verabreicht. Das kann in der Klinik oder in der hausärztlichen Versorgung durchgeführt werden oder besser noch, da schneller verabreicht, vom Patienten selbst, Hierfür gibt es Schulungen. Beim Bradykinin-Rezeptor-Antagonist handelt es sich um eine subkutane Spritze, die gut mitführbar ist und selbst angewendet werden kann. Da die Präparate relativ teuer und nicht immer verfügbar sind, sollten HAE-Patienten sie stets mit sich führen. Ziel ist es, die Attacke so schnell wie möglich zu behandelt. Sind die Schwellungen erst einmal aufgetreten, lassen sie sich so schnell nicht wieder rückgängig machen. Deshalb sollten die Patienten mit der Behandlung beginnen, wenn sie die ersten Anzeichen bemerken. Inzwischen stehen auch mehrere Präparate für die Prophylaxe von HAE-Attacken zur Verfügung. Aufgrund der Seltenheit des HAE sind diese Möglichkeiten nicht allen Medizinern geläufig. Daher ist es ratsam, dass Betroffene in entsprechend spezialisierten Zentren betreut werden.
Frau Prof. Wedi, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Wichtiger Hinweis
Unsere Beiträge beinhalten lediglich allgemeine Informationen und Hinweise. Sie dienen nicht der Selbstdiagnose, Selbstbehandlung oder Selbstmedikation und ersetzen nicht den Arztbesuch. Die Beantwortung individueller Fragen durch unsere Experten ist leider nicht möglich.
Autor: S. Jossé/B. Wedi, www.mein-allergie-portal.com
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