Dünndarm-Fehlbesiedlung beim Reizdarm: Was bedeutet das?
Bei einer Form des Reizdarmsyndroms kommt es im Darm zu einer Fehlbesiedlung, und dadurch kann es zu Bauchbeschwerden kommen. Was ist mit Fehlbesiedlung genau gemeint? Wie kann es dazu kommen? Wie weist man eine Fehlbesiedlung nach? MeinAllergiePortal sprach mit Prof. Dr. med. Thomas Frieling, Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie, Neurogastroenterologie, Infektiologie, Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am HELIOS Klinikum Krefeld und Mitautor des Buches „Darm an Hirn! Der geheime Dialog unserer beiden Nervensysteme und sein Einfluss auf unser Leben“ über die bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung.
Autor: Sabine Jossé M.A.
Interviewpartner: Prof. Dr. med. Thomas Frieling
Herr Prof. Frieling, was versteht man unter einer Fehlbesiedlung des Darms?
Eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung bedeutet, dass Bakterien, die eigentlich im Dickdarm angesiedelt sind, vermehrt im Dünndarm vorkommen. Im Dickdarm sind diese Bakterien wichtig und erwünscht. Sie sind Teil des Mikrobioms, das sich von Mensch zu Mensch unterscheidet und das mit der Darmschleimhaut, dem Bauchhirn und dem Immunsystem in einem engen Austausch steht. Im Dünndarm hingegen findet man diese Bakterien normalerweise kaum, man kann sagen, je weiter man, ausgehend vom Dickdarm, innerhalb des Dünndarms hochsteigt, umso geringer wird die Anzahl an Bakterien.
Zwischen Dünn- und Dickdarm gibt es die sogenannte Ileozökalklappe, eine Art Ventil zwischen dem Zökum, dem Anfang des Dickdarms und dem Ende des Dünndarms, des terminalen Ileum, das normalerweise verhindert, dass Dickdarmbakterien in den Dünndarm zurückgeschwemmt werden. Bei der bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung ist dies, wie gesagt, anders, dann findet man die Mikrobiombakterien im Dünndarm.
Wie kommt es im Dünndarm zu einer Besiedlung mit Bakterien des Dickdarms?
Verschiedene Einflüsse können dazu führen, dass es zu einer bakteriellen Fehlbesiedlung des Dünndarms kommt. Ein Grund können Operationen sein, bei denen Bakterien vom Dickdarm auf den Dünndarm übertragen werden. Bei Patienten mit Morbus Crohn kann z.B. eine Ileozökalresektion nötig werden, d.h. die Ileozökalklappe wird entfernt, und bei diesen Patienten kommt es deutlich häufiger zu Dünndarmfehlbesiedlungen.
Spekuliert wird aber auch, ob Bakterien möglicherweise mit der Nahrung aufgenommen werden könnten.
Wie kann es dazu kommen, dass sich Bakterien aus der Nahrung im Dünndarm ansiedeln?
Es gibt die Theorie und auch Hinweise darauf, dass es bei Patienten, die Säurehemmer einnehmen, die sogenannten Protonenpumpenhemmer, die viel zu häufig verschrieben werden, eher zu einer Bakterienfehlbesiedlung des Dünndarms kommt, als bei anderen Menschen. Normalerweise tötet die Magensäure Bakterien aus der Nahrung ab. Bei Patienten, die regelmäßig Protonenpumpenhemmer einnehmen, gibt es jedoch keine Säurebarriere mehr im Magen. So werden die Bakterien aus der Nahrung im Magen nicht abgetötet und könnten sich im Dünndarm ansiedeln. Deshalb sollte man die Indikationsstellung für Protonenpumpenhemmer sehr eng fassen, d.h. man sollte nur dann darauf zurückgreifen, wenn dies wirklich der einzig gangbare Weg ist.
Aber auch Störungen des Dünndarms können dazu führen, dass es dort zu Bakterienansiedlungen kommt.
Welche Störungen des Dünndarms können zu einer Bakterienfehlbesiedlung führen?
Eine mögliche Störung des Dünndarms, die Dünndarmfehlbesiedlungen verursachen können, sind Infektionen, zum Beispiel mit Lamblien. Lamblien (Giardia lamblia) sind Parasiten, die in südlichen Ländern im Trinkwasser vorkommen können. Die Erreger nisten sich dann im Dünndarm ein und die dadurch verursachten Beschwerden findet man auch beim Reizdarmsyndrom.
Es gibt auch Patienten, bei denen es aufgrund anatomischer Veränderungen zu einer Dünndarmfehlbesiedlung kommt. Hat ein Patient zum Beispiel Dünndarmdivertikel, kann es zu einer Stauung des Sekrets und so zu Fehlbesiedlungen kommen. Eine Entfernung der Divertikel kann Abhilfe schaffen, sollte man jedoch sehr gut abwägen, denn es handelt sich um eine relativ aufwändige Operation.
Auch Störungen der für den Dünndarm relevanten Sekrete können eine Fehlbesiedlung hervorrufen. Im Dünndarm werden normalerweise Bakterien aus der Nahrung abgetötet, z.B. durch das Pankreassekret, d.h. des Sekret der Bauchspeicheldrüse und durch das Gallensekret. Ist dies nicht oder in nicht ausreichendem Maße der Fall, können sich Bakterien im Dünndarm ansiedeln.
Ein weiterer Faktor sind Motilitätsstörungen, denn wenn sich die Motilität des Dünndarms ändert, kann dies ebenfalls ein Grund für eine Fehlbesiedlung des Dünndarms sein. Normalerweise hat der Dünndarm ein Motilitätsmuster, das „Housekeeper“ genannt wird. „Housekeeper“ bedeutet, dass der Dünndarm zwischen den Mahlzeiten, d.h. in nüchternem Zustand, ein gewisses Bewegungsmuster aufweist, das dazu führt, dass Nahrungsreste und Sekrete aus dem Dünndarm abtransportiert werden, d.h. der Dünndarm wird gereinigt. Dabei werden auch Bakterien, die sich eventuell noch im Dünndarm befinden, zum Dickdarm transportiert. Ist dieses Motilitätsmuster gestört, kann auch dies dazu führen, dass Bakterien im Dünndarm verbleiben. Ein Teil der Reizdarm-Patienten leidet unter einer gestörten Dünndarmmotilität und somit unter einer Dünndarmfehlbesiedlung.
Wodurch entstehen bei der bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung die Bauchbeschwerden?
Bei einer bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung wird die aufgenommene Nahrung bereits im Dünndarm vergoren, d.h. die Bakterien beginnen, die Kohlenhydrate aus der Nahrung zu zersetzen. Dabei entstehen Flüssigkeiten, die wiederum die typischen Beschwerden auslösen, z.B. Blähungen, Bauchkrämpfe und Durchfälle. Diese Beschwerden findet man häufig auch beim Reizdarm und deshalb gilt es als eine Unterform des Reizdarmsyndroms, wenn man im Zusammenhang mit den typischen Beschwerden eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung nachweisen kann.
Welche Symptome kann eine Bakterienfehlbesiedlung des Dünndarms auslösen?
Die Symptome bei einer Bakterienfehlbesiedlung des Dünndarms sind unspezifisch. Es kann z.B. zu Blähungen, Durchfall, Verstopfungen, Bauchschmerzen oder Bauchkrämpfen kommen. Diese und ähnliche Symptome können auch beim Reizdarmsyndrom auftreten oder bei nicht allergisch bedingten Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Auch ein Dickdarmkrebs kann Reizdarm-Beschwerden verursachen. Deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, dass Patienten mit solchen Beschwerden zunächst gründlich untersucht werden, um eventuell bestehende gefährliche Erkrankungen auszuschließen.
Welche Untersuchungen sollten bei Bauchbeschwerden erfolgen, um gefährliche Erkrankungen auszuschließen?
Wichtig zum Ausschluss gefährlicher Erkrankungen bei Bauchbeschwerden ist eine Koloskopie, d.h. eine Dickdarmspiegelung. Bei Frauen sollte eine gynäkologische Untersuchung erfolgen, denn ein Ovariarkarzinom, d.h. ein Eierstockkrebs, im Frühstadium kann ebenfalls Reizdarm-ähnliche Beschwerden hervorrufen. All diese Erkrankungen müssen zu Beginn ausgeschlossen werden, wenn reizdarmähnlicher Bauchbeschwerden auftreten, die Diagnose des Reizdarmsyndroms ist eine Ausschlussdiagnose.
Wie erfolgt die Diagnose „bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung“?
Die Diagnose „bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung“ erfolgt aufgrund der Klinik und über einen Wasserstoffatemtest. Zum Hintergrund: Wenn die Bakterien im Dünndarm die Kohlenhydrate zersetzen, entsteht Wasserstoff, der über die Darmschleimhaut ins Blut aufgenommen wird. Mit dem Blut wird der Wasserstoff in die Lunge transportiert und abgeatmet. Eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung kann man deshalb über einen Wasserstoffatemtest nachweisen, den H2-Exhalationstest, mit dem man auch eine Laktoseintoleranz oder eine Fruktosemalabsorption nachweisen kann. Wenn im Atemtest die Wasserstoffkonzentration in der Ausatemluft im Basalzustand, d.h. im nüchternen Zustand, schon erhöht ist, oder wenn der Patient auf Glukose mit einem sehr frühen Anstieg reagiert, ist dies ein sehr verdächtiger Hinweis, dass eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung vorliegt.
Und wie behandelt man die bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung?
Eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung kann man mit Antibiotika behandeln. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass eine Antibiotikabehandlung bei Patienten mit Fehlbesiedlung die Beschwerden verbessert. Die Experten sind sich hierbei aber noch nicht einig, ob dieser Effekt darauf zurückzuführen ist, dass die Antibiotika tatsächlich die Bakterien im Dünndarm behandeln, oder ob man nicht vielmehr die Bakterienflora im Dickdarm verändert.
Das Problem ist jedoch, oft geht es den Patienten bis zu sechs Wochen nach der Behandlung gut, aber dann stellt sich die bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung wieder ein und man müsste erneut mit Antibiotika behandeln. Das bedeutet, eine Lösung für das Problem ist eine Antibiotikabehandlung nicht, weil sie nicht die eigentliche Ursache der bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung beseitigt, sondern nur die Folge – ein ungelöstes Problem.
Mögliche Optionen wären, eine andere Antibiotikakombination auszuprobieren oder die Ernährung umzustellen, z.B. auf mehrere kleine an Stelle von drei großen Mahlzeiten am Tag. Man kann versuchen Prokinetika zu geben, Medikamente die die Dünndarmbewegung fördern, um die Housekeeper-Funktion zu verbessern -hier gibt es keine Standardtherapie.
Herr Prof. Frieling, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Wichtiger Hinweis
Unsere Beiträge beinhalten lediglich allgemeine Informationen und Hinweise. Sie dienen nicht der Selbstdiagnose, Selbstbehandlung oder Selbstmedikation und ersetzen nicht den Arztbesuch. Die Beantwortung individueller Fragen durch unsere Experten ist leider nicht möglich.