Atopischer Marsch, was heißt das bei Allergie?
Mit „allergischer Marsch“ oder „atopischer Marsch“ bezeichnet man das Phänomen, dass bestimmte Menschen bereits im Säuglingsalter eine Allergie entwickeln und im Laufe des Lebens weitere Allergien folgen. Die Betroffenen durchlaufen dann eine regelrechte „Allergiker-Karriere“, so die Theorie. Mittlerweile hat sich aber sie Erkenntnis durchgesetzt, dass eine chronologische Abfolge des allergischen Marsches so nicht stattfindet. Vielmehr richtet sich der Blick auf die Typ-2-Entzündung als eine Gemeinsamkeit der Allergien. Darüber sprach MeinAllergiePortal mit Prof. Dr. Knut Brockow, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie, Technische Universität München.
Autor: Sabine Jossé M.A.
Interviewpartner: Prof. Dr. Knut Brockow
Herr Prof. Brockow, was ist ein atopiescher Marsch?
Als "typischer" Verlauf des allergischen Marsches ist definiert, wenn ein Säugling Neurodermitis, also ein atopisches Ekzem, entwickelt, die mit einer Nahrungsmittelallergie einhergeht. Typischerweise ist das eine Kuhmilchallergie oder eine Weizenallergie. Die nächsten Schritte auf dem „atopischen Marsch“ wären dann ein allergisches Asthma bronchiale und eine allergische Rhinokonjunktivitis. Die allergische Rhinokonjunktivitis kann eine Pollenallergie sein, oder eine Allergie auf Hausstaubmilben, eine Schimmelpilzallergie oder eine Tierhaarallergie. Im Erwachsenenalter zeigen sich die weiteren Stationen des „allergischen Marsches“ in Form einer Insektengiftallergie, einer Arzneimittelallergie, einer Kontaktallergie und schließlich einer Anaphylaxie. Soweit die Theorie.
Warum zweifelt man an dieser theoretischen Abfolge des atopischen Marsches?
Der allergische Marsch ist ein passendes Bild, um zu beschreiben, dass Allergiker im Laufe ihres Lebens unterschiedliche Allergien entwickeln können, atopische Erkrankungen häufig zusammen auftreten und sich Ekzeme - und Nahrungsmittelallergien häufig vor Asthma und dieses vor Rhinokonjunktivitis entwickeln. Allerdings nicht, wie in der Theorie beschrieben, für jeden in dieser vorgegebenen Reihenfolge. Zunehmend zeigt sich nämlich, dass die Reihenfolge der Erkrankungen nicht vorhersehbar ist. Insofern ist die Theorie einer festgelegten Abfolge der Entwicklung allergischer Erkrankungen eher verwirrend und berücksichtigt nicht die Einzelfälle bzw. die Individualität des Menschen. Ein Beispiel dafür ist auch der Etagenwechsel, also die Ausweitung einer Pollenallergie zu einem Pollenasthma. Zum Beispiel dieses gefürchtete Phänomen in der Allergologie kehrt die beim atopischen Marsch beschriebene Reihenfolge um. Weiterhin hängen die atopischen Erkrankungen zwar signifikant miteinander zusammen, aber nur etwa 5 Prozent der Patienten beschreiten den vollständigen atopischen Marsch. Es gibt viel mehr Menschen, die nur eine oder zwei Erkrankungen entwickeln und dieses auch in unterschiedlichen Reihenfolgen. Und: Auch die Tatsache, dass immer mehr Erwachsene erstmals an einer Allergie erkranken, spricht gegen die in der Theorie des allergischen Marsches festgelegte Reihenfolge.
Ist es denn neu, dass eine Allergie erst bei Erwachsenen zum ersten Mal auftritt?
Zwar ist dieses Phänomen nicht neu, aber es wurde in der Vergangenheit nicht berücksichtigt. Dies liegt unter anderem daran, dass die Theorie des allergischen Marsches, zumindest in Deutschland, primär von den Kinderärzten vertreten wurde. Die Kinderärzte wurden bei den Kindern mit dem Phänomen einer gewissen Abfolge allergischer Erkrankungen konfrontiert und haben diese Beobachtung auf die Erwachsenen übertragen.
Die Theorie des atopischen Marsches hat eine gewisse Attraktivität, denn sie versucht eine sehr komplexe Erkrankung mit einem einfachen, gut verständlichen Bild zu erklären. Es gibt auch Patienten, deren Beschwerden sehr gut in dieses Bild passen. Wir müssen aber erkennen, dass das Bild vom allergischen Marsch bei der Mehrzahl der Patienten nicht passt. So gibt es beispielsweise durchaus viele Patienten, die erst im höheren Lebensalter eine Neurodermitis, einen Heuschnupfen oder Asthma entwickeln. Das Bild vom allergischen Marsch stiftet deshalb Verwirrung. Es suggeriert eine feste Reihenfolge, die für den individuellen Patienten gar nicht vorgegeben ist.
Bedeutet das, dass es keinen Zusammenhang zwischen Allergien gibt, auch wenn sie beim selben Patienten auftreten?
Nein, diesen Zusammenhang gibt es schon. Man kann durchaus sagen, dass bei einer Atopie das Risiko an weiteren atopischen Erkrankungen zu erkranken, erhöht ist. Die Definition von Atopie ist die Neigung des Immunsystems, auf eigentlich harmlose Stoffe mit einer verstärkten allergischen Reaktion zu reagieren. Auch bei einer Sensibilisierung besteht ein erhöhtes Risiko, weitere Sensibilisierungen zu entwickeln. Bei einer Sensibilisierung ist beim Allergietest im Blut eine Reaktion des Immunsystems auf ein Allergen erkennbar. Dann ist das Risiko erhöht, eine klinisch relevante Allergie zu entwickeln, die sich auch an Allergiesymptomen zeigt. Heute hat man aber einen ganzheitlicheren Blick auf die Allergie und sieht sie eher vor dem Hintergrund der Typ-2-Entzündung.
Was haben Allergien mit einer Typ-2-Entzündung zu tun?
Soforttypallergien und atopische Erkrankungen sind mit einer sogenannten Typ-2-Entzündung assoziiert. Darunter versteht man eine bestimmte übersteuerte Immunreaktion auf eigentlich harmlose Stoffe. Die Bereitschaft wird genetisch beeinflusst und wenn Auslöser aus der Umwelt hinzukommen, zum Beispiel in Form von Pollen, kommt es zur Entzündungsreaktion. An der Typ-2-Entzündung sind unter anderem Immunglobulin E (IgE), Interleukine (IL), wie IL-4 und IL-13, Immunzellen wie Basophile oder Mastzellen sowie T-Helfer-2-Zellen (TH2-Zellen), die Namensgeber der Typ-2-Inflammation, beteiligt. Diese Muster findet man, wenn man Gewebe oder Blut von Patienten mit Soforttypallergien unter dem Mikroskop oder im Reagenzglas untersucht.
Entzündungen spielen auch bei Autoimmunerkrankungen eine Rolle, gibt es hier Gemeinsamkeiten mit Allergien?
Auch bei Autoimmunerkrankungen kommt es zu einer überschießenden und schädlichen Antwort unseres Immunsystems. Bei Allergien reagiert unser Körper auf eigentlich nicht schädliche Umweltsubstanzen mit Abwehrmaßnahmen, bei Autoimmunerkrankungen werden sogar körpereigene Zellen von dem eigenen Immunsystem angegriffen. Obwohl beide eine überschießende Immunreaktion hervorrufen sind die Mechanismen unterschiedlich und gibt es keine überzufällige Assoziation zwischen diesen Erkrankungsgruppen.
Zurück zum allergischen Marsch: Welche Rolle spielt die Vererbung?
Die genetische Vererbung ist schon eine Basis für die Entstehung atopischer Erkrankungen. Dies gilt insbesondere für Neurodermitis, Asthma und Heuschnupfen. Der Mensch bekommt ein Genom mit unterschiedlichen Einzelgenen vererbt, die teilweise auch die Neigung des Immunsystems, mit Entzündungen zu reagieren, bestimmen. Verschiedene Gene zusammengenommen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, atopische Erkrankungen zu entwickeln. Insofern ist die Vererbung eine Basis, die zwar die Wahrscheinlichkeit einer Allergieentstehung mitbestimmt, man kann dadurch aber nicht genau vorhersagen, wer Allergiker wird und wer nicht. Hier spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Der Einfluss der Vererbung auf atopische Erkrankungen wird mit Hilfe von sogenannten Linkage-Studien untersucht, an denen Patienten mit bestimmten Erkrankungen, wie Neurodermitis, Heuschnupfen oder Asthma, teilnehmen.
Was weiß man aus diesen Studien über die Vererbung von Allergien?
Ziel der Linkage-Studien war es herauszufinden, ob bestimmte Gene bei den atopischen Patienten im Vergleich zur Normalbevölkerung besonders häufig ausgeprägt werden. Dabei hat sich gezeigt, dass eine ganze Reihe von Genen bei diesen atopischen Erkrankungen auffällig sind. Daraus zieht man den Rückschluss, dass bei einer bestimmten genetischen Konstellation, das Risiko für die Entwicklung atopischer Erkrankungen höher ist.
Wie hoch ist das Risiko von Kindern allergischer Eltern, auch Allergien zu bekommen?
Früher ging man davon aus, dass die Mehrzahl der Kinder atopischer Eltern mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 bis 60 Prozent, eine atopische Erkrankung entwickeln würde. Man hat das dann in Querschnittsstudien zu die Atopien und Sensibilisierungen überprüft. Deshalb weiß man jetzt, dass die Wahrscheinlichkeit gar nicht so hoch ist, wie dies immer angenommen wurde. Man geht davon aus, dass, wenn beide Eltern atopisch sind, das Kind in den ersten zwei Lebensjahren ein 33 prozentiges Risiko hat, ebenfalls eine atopische Erkrankung zu entwickeln. Im Vergleich zu nicht-atopischen Kindern ist dies eine Verdoppelung der Wahrscheinlichkeit. Aber der Unterschied zwischen vorbelasteten und nicht vorbelasteten Kindern beträgt letztendlich lediglich 15 Prozent.
Gibt es Allergien, die häufiger in Kombination auftreten?
Aus der klinischen Beobachtung heraus kann man sagen, dass bei Kindern zuerst die Neurodermitis auftritt und sich dann erst die Nahrungsmittelallergie entwickelt. Typisch ist hier die Reaktion auf tierische Allergene wie Kuhmilch und Hühnerei. Heute weiß man, dass es durch die bei der Neurodermitis gestörte Hautbarriere zu einem Hautkontakt mit dem Nahrungsmittelallergen kommt und dass sich dadurch leichter Sensibilisierungen entwickeln können. Dies erklärt auch, warum in diesem Lebensalter hauptsächlich Patienten mit Neurodermitis Nahrungsmittelallergien entwickeln. Die überwiegende Anzahl der Kinder mit einer Nahrungsmittelallergie hat eine Neurodermitis - eine Nahrungsmittelallergie im frühen Kindesalter ohne Neurodermitis ist relativ selten.
Welche Rolle spielt der Schweregrad der Allergie für zusätzliche weitere Allergien?
Bei bestimmten, schweren Allergien kommt es durchaus eher zu weiteren Allergien, das gilt für:
1. Neurodermitis
Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der Neurodermitis und der Wahrscheinlichkeit eine Nahrungsmittelallergie zu entwickeln. Bei sehr stark betroffenen Neurodermitis-Patienten besteht häufig eine tendenziell auch stärker ausgeprägte Nahrungsmittelallergie. Bei den schwersten Formen der Neurodermitis haben Studien gezeigt, dass bei etwas über 50 Prozent der Betroffenen eine Nahrungsmittelallergie auftritt. Bei sehr leichten Neurodermitis-Fällen sieht man Nahrungsmittelallergien sehr selten. Man weiß allerdings nicht, ob sich die beiden Krankheitsbilder nicht auch gegenseitig befeuern.
2. Pollenallergien
Ein weiteres typisches Beispiel für relativ eng verquickten Allergieformen ist der Zusammenhang zwischen einer Pollenallergie, einem Heuschnupfen, und einer Nahrungsmittelallergie auf pflanzliche Nahrungsmittel. Diese sogenannten Kreuzallergien entstehen aus Kreuzreaktivitäten zwischen Pollen und ähnlichen Eiweißstrukturen in den entsprechenden Nahrungsmitteln.
3. Allergische Rhinitis
Weiter sind die allergische Rhinitis und das allergische Asthma bronchiale sehr stark miteinander verknüpft. Und insgesamt werden die allergischen Erkrankungen Neurodermitis, allergische Rhinitis und allergisches Asthma als Atopie beschrieben, weil sie sehr häufig zusammen auftreten. Auch Urtikaria tritt häufig in Zusammenhang mit einer dieser Erkrankungen auf.
Kann man den allergischen Marsch bzw. die Ausbreitung oder Verschlimmerung von Allergien verhindern?
Dies betrifft den Bereich der Primärprävention. Über viele Jahre wurde bei atopisch vorbelasteten Kindern versucht, mit Hilfe von konsequenter Allergenmeidung, zum Beispiel in Form von hypoallergener Säuglingsernährung, die Entwicklung von Allergien zu verhindern. Hier hat sich allerdings gezeigt, dass dieses so nicht mehr empfohlen werden kann.
Grundsätzliche Empfehlungen, die dabei helfen können, das Entstehen einer Allergie zu vermeiden, sind:
- Meidung von Allergenen in der Schwangerschaft oder in der Stillzeit nicht empfohlen
- Stillen für vier bis sechs Monate
- Keine Zufütterung von Kuhmilchformula in den ersten Lebenstagen
- bei Risikokindern hypoallergene Säuglingsernährung mit bestimmten Präparaten, wenn nicht teil- oder vollgestillt wird
- Beikosteinführung ab dem 5. bis spätestens 7. Lebensmonat, dann auch regelmäßige Gabe durcherhitzter Hühnereiprodukte
- keine Soja- oder Getreidemilchen, Prä- oder Probiotika zur Allergievorbeugung nicht empfohlen
- Vermeidung von Tabakrauchexposition
- Meidung eines schmimmelpilzfördernden Innenraumklimas
Impfungen sind nicht negativ für die Allergievorbeugung, können sogar positiv wirken, und sollten entsprechend der Empfehlungen der Impfkommision durchgeführt werden, auch für Risikokinder.
In Bezug auf die Tierhaltung wird diskutiert, dass man sich eine Katze nicht neu anschaffen sollte. Es besteht aber kein Grund, eine Katze wegzugeben, wenn die Familie schon eine hat. Ein Hund dagegen ist kein Problem, er scheint sogar vor Allergien zu schützen.
Herr Prof. Brockow, herzlichen Dank für das Interview!
Wichtiger Hinweis
Unsere Beiträge beinhalten lediglich allgemeine Informationen und Hinweise. Sie dienen nicht der Selbstdiagnose, Selbstbehandlung oder Selbstmedikation und ersetzen nicht den Arztbesuch. Die Beantwortung individueller Fragen durch unsere Experten ist leider nicht möglich.
Autor: S. Jossé/K. Brockow, www.mein-allergie-portal.com
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