Laktose: Für Erwachsene verträglich oder nicht?
„Laktose nicht zu vertragen ist für Erwachsene normal“ und „alle Erwachsenen haben Laktoseintoleranz“ diese Argumente hört man immer öfter. Die Begründung: „Milch ist für Kälber gedacht, nicht für erwachsene Menschen“ – aber stimmt das? Prof. Dr. Joachim Burger beschäftigt sich schon seit Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Laktose. Der Professor für Anthropologie und Leiter der Arbeitsgruppe Palaeogenetik an der Johannes Gutenberg Universität Mainz sprach deshalb mit MeinAllergiePortal über Laktoseinotleranz und die spannende Frage: Welche Rolle spielte die Fähigkeit, Laktose verdauen zu können für die Evolution?
Autor: Sabine Jossé M.A.
Interviewpartner: Prof. Dr. Joachim Burger
Herr Prof. Burger, wie bewerten Sie die Aussage, Laktose sei schädlich, denn Milch sei für Kälber und nicht für erwachsene Menschen gedacht?
Das Argument, Milch sei schädlich für den Menschen, weil sie von der Natur für Kälber und nicht für Erwachsene Menschen „gedacht“ sei, halte ich für etwas „dünn“.
Schließlich gibt es kein Nahrungsmittel, das ausschließlich für den Verzehr durch den Menschen bestimmt ist. Auch Hühnereier, Obst und Gemüse dienen nicht primär unserer Ernährung. Tatsache ist: Sehr viele Menschen vertragen Milch, sowohl in vergorener als auch in unvergorener Form.
Welche Bedeutung hat Milch für die Entwicklung des Menschen?
Milch ist seit fast 10.000 Jahren ein wesentlicher Bestandteil unserer Ernährungskultur. Der Mensch hat mit dem Zugang zu „melkbarer Milch“, also im Zuge der Domestikation von Rind, Ziege und Schaf, die Milch recht schnell als Nahrungsquelle für sich entdeckt. So hat der Mensch sein Überleben gesichert. Es gibt sogar Theorien, die davon ausgehen, dass der Zugang zur Milch und der Milchgenuss viel eher der Motor zur Domestikation dieser Wildtiere war, als der Fleischverzehr. Schließlich ist es für die Nahrungsversorgung nachhaltiger, diese Tiere über einen langen Zeitraum hinweg zu melken, als sie gleich zu schlachten. Einer meiner Kollegen hat errechnet, dass der Energieertrag einer Milchkuh wesentlich höher ist, als der Ertrag einer zur Fleischproduktion bestimmten Kuh.
Nicht alle Menschen vertragen jedoch die Milch…
Es gibt Menschen, die auf Proteine in der Milch allergisch sind. Allerdings handelt es sich hierbei um sehr geringe Fallzahlen. Anders ist dies bei der Laktoseintoleranz, die allerdings nicht zu den Allergien zählt, sondern zu den Nahrungsmittelunverträglichkeiten.
Warum vertragen erwachsene Menschen Laktose manchmal nicht?
Laktose mit der Zeit nicht mehr zu vertragen, ist ein ganz natürlicher Prozess – insofern ist Laktoseintoleranz bei Erwachsenen Menschen eigentlich normal. Aber nicht alle Menschen sind laktoseintolerant. Mit zunehmendem Alter sind manche Menschen nicht mehr in der Lage, die Laktose, den Milchzucker, zu spalten. Diesen Menschen fehlt das Enzym Laktase. Dabei spielt aber auch die Laktosemenge eine Rolle. Reine Milch in größeren Mengen können Laktoseintolerante oft nicht vertragen, geringere Mengen oder vergorene Milchprodukte, die wenig Laktose enthalten, hingegen schon.
Wie sieht es mit der Verträglichkeit von Laktose bei den Kindern aus?
Weltweit vertragen Kinder Laktose, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sehr gut. Kinder müssen laktoseverträglich sein, denn sie werden ja mit Muttermilch, die Laktose enthält, ernährt. Die in der Muttermilch enthaltene Laktose müssen die Babys natürlich auch verdauen können.
Ist die Phase der Ernährung mit Muttermilch vorbei, wird die Fähigkeit, Laktose zu verdauen überflüssig. Folglich wird die Produktion des Enzyms Laktase runterreguliert.
Warum? Weil die Natur überflüssigen Ballast abbaut, das ist ein Grundprinzip der Evolution! Das ist im Falle der Laktoseintoleranz aber keine Krankheit, sondern ein ganz normaler Prozess.
Die Muttermilch ist übrigens in der Tat ein Nahrungsmittel, das für den Menschen gemacht ist!
Wie wichtig ist Milch heutzutage für die Ernährung?
Heutzutage braucht der Mensch in der westlichen Welt die Milch nicht mehr, um zu überleben. In Zeiten des Überflusses und der Supermärkte gibt es bei uns keine Hungersperioden oder Epidemien mehr, bei denen die Frischmilch ein Überlebensfaktor sein könnte. Die frühe Phase in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte, in der die Entdeckung der Milch als Nahrungsquelle einen evolutionären Vorteil darstellte, ist vorbei.
Wenn die Fähigkeit Laktose zu verdauen mit zunehmendem Alter nachlässt, wie haben denn dann erwachsene Menschen im Rahmen der Evolution geschafft, Laktose zu verdauen?
Wie gesagt wurde die Fähigkeit zur Produktion des Enzyms Laktase beim Menschen mit zunehmendem Alter geringer. Dann entstand jedoch, mit dem Zugriff auf domestizierte, milchgebende und melkbare Tiere, das Nahrungsangebot “Milch“. Nun hatten Menschen mit zufälligen Mutationen, die sie in die Lage versetzten, auch im Erwachsenenalter Laktose zu verdauen, einen enormen Vorteil. Mit der Milch vergrößerte sich das Nahrungsangebot dieser Menschen mit „Laktase“-Mutation und sie hatten einen gewissen Überlebensvorteil. Damit liegt der Fähigkeit des Menschen, Laktose zu verdauen, ein Prinzip zugrunde, dass in der Evolution häufig vorkommt.
Milch zu vertragen wurde also zum Vorteil im Kampf ums Überleben?
Kein Kampf, nein, lediglich ein kleiner Überlebensvorteil in Zeiten von Krisen. Wir wissen, dass in Europa noch vor ca. 7.000 Jahren, so gut wie niemand in der Lage war, Laktose im Erwachsenenalter zu verdauen. Heute vertragen zwischen 80 und 90 Prozent der Europäer Laktose, in Irland sogar fast 100 Prozent. Die Fähigkeit, Laktose in der Milch zu verdauen, muss also ein evolutionär relevanter Faktor gewesen sein. Insbesondere deshalb, weil man zu diesem Zeitpunkt bereits vergorene Milchprodukte wie Joghurt und Käse kannte, die bereits fast alle ernährungsrelevanten Vorteile der Milch aufweisen. Fakt ist: Die Kinder der Menschen, die Laktose auch als Erwachsene vertrugen, waren überlebensfähiger, als die Kinder derjenigen, die Laktose nicht vertrugen.
Der evolutionäre Vorteil kam also durch die Fähigkeit, die Laktose in der Frischmilch zu verdauen, obwohl vergorene Milchprodukte bereits auf dem Speisezettel standen und auch vertragen wurden?
Genau, denn bei Käse ist der Gehalt an Laktose ja bereits reduziert. Je reifer und härter der Käse, desto weniger Laktose enthält er.
Sie erwähnten die Mutation als Voraussetzung zur Verträglichkeit von Laktose. Weiß man, ob diese Mutation ein Zufall ist, oder ob sie vom Milchangebot getriggert wird?
Wir wissen, dass die für die Verträglichkeit von Laktose ausschlaggebende Mutation an einer Stelle im Genom stattfand, an der es häufig zu Mutationen kommt. Zu dem Zeitpunkt, als die Milch für die Menschen durch die Domestizierung von milchgebenden Tieren verfügbar wurde, bestand diese Mutation beim Großteil der Menschen noch nicht. Mit dem Angebot der Frischmilch kam es dann jedoch zur Vermehrung der Mutation, die Ursprungsmutation entstand aber zufällig.
Gibt es auch bei Menschen, die Laktose vertragen, ein „zu viel“ bei Milchprodukten?
Wenn man laktosetolerant bzw. laktasepersistent ist, kann man sich an Milch nicht „übertrinken“. Ist man das nicht, wird man ab einem gewissen Punkt Symptome spüren.
Was passiert im Körper, wenn man Laktose nicht verträgt?
Da der Körper von Laktoseintoleranten mangels Laktase die Laktose nicht verdauen kann, übernehmen Mikroorganismen im Dünndarm diese Aufgabe. Diese Mikroorganismen erhöhen ihre metabolische Rate und so entstehen Gase. Diese Gase müssen den Körper verlassen und so kann es zu Übelkeit, Erbrechen, Durchfällen und Blähungen kommen. Nicht mehr nicht weniger. Ab welcher Menge an Laktose dies der Fall ist und wie die Symptome jeweils aussehen, ist individuell verschieden. Für die Betroffenen ist dies sehr unangenehm, aber nicht wirklich pathologisch. In manchen historischen Zeiten, wo das Immunsystem ohnehin belastet gewesen ist oder immer dann, wenn andere Durchfallerkrankungen wie Cholera umgingen, können diese Symptome jedoch einen entscheidenden Nachteil dargestellt haben.
Übrigens: In Europa gibt es im Hinblick auf die Verträglichkeit von Milch ein Nord-Süd-Gefälle, je weiter südlich die Menschen leben, desto häufiger vertragen sie Laktose nicht.
Warum vertragen Menschen, die im Norden leben, Laktose tendenziell besser als Menschen, die im Süden leben?
Es gibt Modelle zur demographischen Verbreitung der Fähigkeit, Laktose zu verdauen. Eine Mutante verbreitet sich ja nicht zwangsläufig gleichmäßig über die Welt. Wir gehen davon aus, dass es zuerst in Mitteleuropa zu einer Mutation kam und sich die Toleranz von Laktose von dort aus verbreitete. Wahrscheinlich konnte die Milch im Süden bzw. im Mittelmeerraum aber nie eine große Rolle spielen, weil es dort traditionell eine Reihe von verarbeiteten Milchprodukten, wie Joghurt, Dickmilch und Käse gab. Im Norden hat man hingegen eher zur Frischmilch gegriffen. Die Verbreitung der Verträglichkeit von Laktose bzw. die Laktasepersistenz erfolgte dann in komplexer Abhängigkeit von den demographischen Bewegungen in der Vorgeschichte der Menschheit, die wir aber noch nicht 100prozentig verstehen.
Wie verhält es sich mit der Laktasepersistenz in anderen Ländern?
In der asiatischen Küche spielt traditionell weder Milch noch Käse eine Rolle. In diesen Ländern wird der Nahrungsbedarf dann eben durch andere Nahrungsmittel gedeckt. Den Vitamin D-Bedarf deckt man in Japan beispielsweise über den Konsum von Fisch, vor allem fettem Fisch und Meeresfrüchten. Kalzium liefern Soja und Hülsenfrüchte.
Wie sieht es bei der Verbreitung der Laktoseintoleranz weltweit aus? In welchen Ländern gibt es mehr Menschen mit Laktoseintoleranz?
Die Verträglichkeit von Laktose entwickelte sich zuerst ausschließlich in Europa, und dann in einigen wenigen Gebieten Afrikas und des Nahen Ostens. In Afrika hat sich die Fähigkeit, Laktose zu verdauen, übrigens unabhängig von Europa entwickelt. Dass sich die Verträglichkeit von Laktose in einer bestimmten Region als Vorteil erweist, bedeutet aber nicht, dass sich dieser Vorteil weltweit verbreiten muss. Jeder Erdteil hat seine eigene Geschichte.
Welches sind Ihre nächsten Forschungsvorhaben zum Thema Laktose?
Wir arbeiten an der Fragestellung, warum die Laktasepersistenz in der Bevölkerung ab einem gewissen Punkt so rapide gestiegen ist. Dazu typisieren wir diesen Marker aus der DNA von Skeletten aus ganz Europa und über alle prähistorischen Zeitspannen.
Im Neolithikums findet man die Genmutation, die für die Toleranz von Laktose verantwortlich ist, noch nicht. Erst in der Bronzezeit findet man erste Mutationen. Und hier die Überraschung: auch vor 4.000 Jahren ist die Häufigkeit von Laktasepersistenz selbst in Gebieten, wo sie heute sehr häufig ist, zum Beispiel in Nord-Deutschland, noch sehr gering. Erst im Mittelalter ist die Toleranz von Laktose dann fast so ausgeprägt wie heute. Wir wollen nun untersuchen, welcher Zusammenhang mit Epidemien wie Cholera besteht. Hier kommt ein anderer Aspekt von Milch zum Tragen: nämlich Milch, im Gegensatz zu potentiell infiziertem Trinkwasser, als unkontaminierte Flüssigkeit. Verträgt man sie nicht, da intolerant, bekommt man noch mehr Durchfall.
Weitere spannende Fragen sind das Thema Pigmentierung und Vitamin D-Mangel, denn auch hier kam es in der Geschichte der europäischen Bevölkerung zu maßgeblichen Veränderungen. Wir vermuten, dass das Thema Milch bzw. Laktose nicht isoliert zu sehen ist, sondern in einem komplexen Gesamtzusammenhang. Faktoren wie Umweltbedingungen, wie zum Beispiel die Sonneneinstrahlung, kulturelle Fragen und vor allem die Demographie spielen hierbei eine Rolle. In nördlichen Breitengraden gibt es zum Beispiel weniger UV-Licht, was die Vitamin D-Synthese hemmt. Die Ausbildung eines helleren Hauttyps wirkt dieser Hemmung entgegen, weil eine hellere Haut mehr UV-Licht absorbieren kann und folglich leichter Vitamin D bildet.
Es gibt aber auch Szenarien, aus denen sich aus einer gewissen Bevölkerungsverschiebung Muster ergeben, wie wir sie beobachten, ohne dass sich dies durch einen Überlebensvorteil durch Laktose bzw. Milchkonsum erklären ließe. Wenn man die Frage der Entwicklung der Laktasepersistenz klären könnte, würden wir wichtige Aspekte der europäischen Bevölkerungsgeschichte, vom Neolithikum bis in die Jetztzeit in Europe, verstehen. Diese Fragen werden uns sicher noch mindestens 10 Jahre beschäftigen.
Herr Prof. Burger, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Wichtiger Hinweis
Unsere Beiträge beinhalten lediglich allgemeine Informationen und Hinweise. Sie dienen nicht der Selbstdiagnose, Selbstbehandlung oder Selbstmedikation und ersetzen nicht den Arztbesuch. Die Beantwortung individueller Fragen durch unsere Experten ist leider nicht möglich.
Autor: S. Jossé/J. Burger, www.mein-allergie-portal.com
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