Corona-Lockdown & Social Distancing: Verändert Isolation das Gehirn?
Das Jahr 2020 ist geprägt vom Corona-Lockdown. Um die Ansteckung mit SARS-CoV-2 zu vermeiden gilt Social Distancing als Mittel der Wahl. Dass das einen Einfluss auf das Wohlbefinden hat, bleibt wohl keinem verborgen. Aber könnten die durch die Corona-Maßnahmen verursachte Isolation auch das Gehirn verändern? Das hat ein internationales Forschungsteam am Max-Planck-Institut für Hirnforschung anhand von Zebrafischen untersucht, die isoliert oder zusammen mit Artgenossen aufgezogen wurden. MeinAllergiePortal sprach mit Studien-Erstautor Lukas Anneser über seine hochinteressanten Forschungsergebnisse und die Sonderrolle von Pth2.
Herr Anneser, bei Ihren Versuchen an isoliert aufgezogenen Zebrafischen haben Sie mehrere Gene entdeckt, deren Expression im Vergleich zu den sozial lebenden Exemplaren verändert war. Welche dieser Gene haben einen Einfluss auf das Gehirn?
Wir haben mehrere hundert Gene zu verschiedenen Entwicklungszeitpunkten beobachtet. Diese Gene waren zum Teil für neuronale Interaktion und Kommunikation zuständig und waren auch an der Regulation anderer Gene beteiligt. Wir haben also ein buntes Gemisch aus vielen Genen gesehen, die alle auf verschiedene Arten und Weisen an der Funktionsweise des Gehirns beteiligt waren.
Welche Veränderungen zeigten sich bei diesen Genen der isolierten Zebrafische in Bezug auf das Gehirn?
Fluoreszenzmikroskopische Aufnahme von Pth2-positiven Nervenzellen (Magenta) und modulatorischen Zellen (Grün) im Gehirn eines Zebrafisches. Quelle: Max-Planck-Institut für Hirnforschung/L. AnneserWir konnten zwei Tendenzen sehen. Zum einen ergab sich ein differenziertes Bild mehrerer hundert Gene, die zu verschiedenen Isolationszeitpunkten differenziell reguliert vorlagen. Einige wurden hoch-, andere herunterreguliert. Das zeigt uns sowohl, dass die Isolationsdauer von Relevanz ist, als auch, dass verschiedene Gene zu verschiedenen Isolationszeitpunkten eine Rolle spielen. Andere Gene, und darauf lag der Fokus unserer Veröffentlichung, reagierten immer gleich, unabhängig von der Isolationsdauer. Dazu gehörte auch das Neuropeptid Pth2, das wir dann fokussiert behandelt haben.
Was bedeutet „neuronale Interaktionen“ in Bezug auf das Verhalten?
Wir sehen, dass beispielsweise Rezeptoren für Neurotransmitter differenziell exprimiert vorlagen. Das heißt, je mehr Rezeptoren für einen bestimmten Neurotransmitter vorliegen, desto einfacher ist eine Zelle zu erregen. Was das genau für das Verhalten bedeutet, kommt auf die Zelle an, in der diese differenzielle Regulation vorliegt. Exakt konnten wir das nicht auflösen, da wir ein Bulk-Experiment gemacht haben, in dem wir viele Zellen zusammen untersucht haben. Vereinfacht gesagt haben wir eine Gruppe von Genen identifiziert, die Auswirkungen auf das Gehirn hat, je nachdem ob eine Isolation erfolgt oder nicht.
Gibt es diese Gene oder Gengruppen, die das Gehirn beeinflussen, bei allen Lebewesen, auch bei Menschen?
Wir haben mit Zebrafischen gearbeitet, weil sie sehr gut für eine solche Untersuchung geeignet sind. Zwischen ihnen und anderen Vertebraten, das heißt Wirbeltieren, liegt auf genetischer Ebene eine große Übereinstimmung vor. Empirische Daten haben wir nicht, wir gehen aber davon aus, dass diese Gene auch bei anderen Vertebraten ähnliche Auswirkungen haben, da sich die genetische Regulation über sehr lange evolutionäre Zeitspannen entwickelt. Der Mensch und die Zebrafische teilen etwa 80 bis 90 Prozent ihrer Gene. Für Menschen ist das oft schwer nachzuvollziehen, weil wir uns im Vergleich zu anderen Lebewesen deutlich unterschiedlich betrachten, aber wenn man sich die Vertebraten als gesamte Gruppe anschaut, sind wir Menschen gar nicht so anders.
Wie sind Sie bei Ihren Versuchen zu den Auswirkungen der Isolation auf das Gehirn vorgegangen und was konnten Sie bezüglich Pth2 feststellen?
Wir haben die Zebrafische in verschiedenen Entwicklungszeiträumen beobachtet. Dazu gehörten Larven, die nur fünf Tage alt waren, ein paar Wochen alte juvenile Fische, sowie drei Monate alte, adulte Fische. In allen Entwicklungsstadien konnten wir beobachten, dass schon eine kurze Isolation ausreicht, um Pth2 herunterzuregulieren. Bei den Jungtieren konnten wir die Isolationszeit minutengenau untersuchen, die adulten Tiere wurden eine Woche lang isoliert, was ebenfalls ausreichend für eine starke Verringerung der Genexpression war.
Gab es unterschiedliche Versuchsreihen bezüglich der Dauer der Isolationszeit?
Wir haben unterschiedliche Isolationsdauern angewandt. Jüngere Tiere haben wir tatsächlich im Stundentakt isoliert, also beispielsweise zwischen einer und 12 Stunden. Dabei gab es bezüglich der Genregulation beträchtliche Unterschiede. Das Gen reagiert zwar anfangs kaum, wird aber bereits nach 6 Stunden stark herunterreguliert, das war tatsächlich sehr überraschend. Noch schneller sieht man eine Änderung der Genregulation, wenn man zuvor isolierte Tiere mit Artgenossen zusammensetzt. Da sieht man eine ähnliche Kurve, nur in die entgegengesetzte Richtung, also einen Anstieg, und das bereits nach 30 Minuten. Das bedeutet: Die Anwesenheit von Artgenossen wird innerhalb weniger Minuten bemerkt und innerhalb von 30 Minuten sieht man dies auf der Transkriptionsebene anhand eines Pth2-Anstiegs. Die Regulation der Gentranskription ist also reversibel. Zu allen getesteten Zeitpunkten fanden wir, dass die Expressionsstärke von Pth2 abhängig ist von der Anzahl der Tiere im Tank, also direkt von der sozialen Umgebung reguliert wird.
Welche Rolle spielt die Dauer der Isolation für die Reversibilität?
Das wollten wir explizit testen. Deshalb haben wir manche Tiere auch 3 Monate langisoliert, über alle Entwicklungszeiträume hinweg: Von Jungtieren bis zum adulten Stadium. Bei allen diesen Tieren konnten wir sehen: Sobald sie wieder mit Artgenossen zusammenkommen, wird pth2 wieder in einem normalen Ausmaß hergestellt. Dabei ist es in seiner Ausprägung nicht unterscheidbar von dem Expressionslevel der Tiere, die in sozialen Gruppen aufgewachsen sind. Das bedeutet: Die Expression dieses Gens ist zwar abhängig von der sozialen Umgebung, bleibt dabei aber komplett reversibel!
Konnten Sie sehen, welche Konsequenzen es hatte, dass Pth2 bei den isolierten Zebrafischen aus dem Gehirn „verschwand“? Gab es zum Beispiel veränderte Verhaltensweisen?
Dazu haben wir noch keine Daten, wir stehen noch am Anfang unserer Forschung an Zebrafischen. Es gibt jedoch einige Untersuchungen zu Pth2 in anderen Spezies, beispielsweise in Nagetieren. Da konnte man sehen, dass Pth2 modulatorische Effekte auf das Schmerzempfinden und Angstzustände hat und dass Pth2 auch bei sozialer Interaktion relevant ist. Beispielsweise wurde gezeigt, dass Rattenmütter ohne Pth2 weniger Brutpflege betreiben, was sich in einer geringeren Gewichtszunahme des Nachwuchses widerspiegelt. Dies ist ein funktioneller Aspekt, den wir in unseren Untersuchungen nicht überprüfen konnten, da Zebrafische keine Brutpflege betreiben. Daher ist es erforderlich, dass das Gen in verschiedenen Spezies untersucht wird.
Kann auch bei Zebrafischen das soziale Verhalten durch fehlendes Pth2 beeinträchtigt sein?
Das war nicht der primäre Fokus unserer Studien, aber wir versuchen gerade Verhaltensweisen zu erkunden, die eventuell beeinflusst werden könnten. Für einen Einfluss von Pth2 auf das Verhalten der Tiere spricht, dass schnelle Gentranskriptionsveränderungen mit einem hohen Energieaufwand verbunden sind und sich deshalb wahrscheinlich auch nur evolutionär entwickeln, wenn sie auch eine direkte Konsequenz haben.
Also muss es einen Vorteil haben, Pth2 unter Isolation herunterzuregulieren und in sozialen Gefügen wieder hochzuregulieren?
Ja, und in diesem Kontext ist es wichtig zu erwähnen, um welche Gengruppe es sich handelt. Es geht um Neuropeptide, und diese Moleküle haben sogenannte neuromodulatorische Wirkungen. Man kennt das von anderen Neuromodulatoren wie dem Bindungshormon Oxytocin oder von Stresshormonen. Durch sie wird ein bestimmter Gehirnzustand ausgelöst, und analog dazu könnte man davon ausgehen, dass auch die Anwesenheit von Artgenossen für das Gehirn durch dieses Neuropeptide kodiert wird und dass somit ebenfalls das Gehirn in einen anderen Zustand versetzt wird. Mechanische Reize wie Berührungen scheinen dementsprechend eine Rolle zu spielen. Was das dann konkret für das Verhalten bedeutet müssen wir noch herausfinden.
Fische nehmen mechanischem Reizen über das Seitenlinienorgan wahr. Welches Organ oder welcher Mechanismus wäre das beim Menschen?
Wir wissen, dass das Seitenlinienorgan entlang eines Nervensystems verläuft, das auch die auditive Wahrnehmung steuert. Das Seitenlinienorgan ist dementsprechend mit dem Gehör assoziiert. Allerdings wissen wir nicht, ob das 1:1 übertragbar ist. Für den Fisch hat das Seitenlinienorgan mit Sicherheit eine mechanische Komponente, und wir wissen, dass Pth2 in Nagetieren auch durch mechanische Reize aktiviert wird. Übertragen auf den Menschen wäre das der Körperkontakt.
Auf den Menschen bzw. auf die Isolation durch die Corona-Maßnahmen übertragen: Wie könnte sich der Mangel an mechanischen Reizen in Zeiten von Corona auf die menschliche Psyche auswirken?
Nachdem wir diesen Zusammenhang herstellen konnten, haben wir versucht, passende Datensätze zu finden, um nachzuvollziehen, wie stark Pth2 bei Menschen aus dünn besiedelten Regionen und bei Menschen aus Ballungsräumen vorliegt. Leider gibt es diese Datensätze noch nicht. Wenn man davon ausgeht, dass Pth2 auch bei uns Menschen durch mechanische Reize ausgelöst wird, könnte man annehmen, dass durch soziale Isolation Pth2 in geringerem Maße vorliegt, was auch immer das für uns funktionell bedeuten mag. Hervorzuheben ist an dieser Stelle nochmal, dass der Effekt, bei Fischen zumindest, reversibel ist.
Ist es möglich, dass ab einer bestimmten Isolationsdauer die Reversibilität nicht mehr gegeben ist? Auch bezogen auf die Menschen in Zeiten von Corona und Lockdown?
Wir haben die Grenzen nicht ausgereizt. Zebrafische werden bis zu 2 Jahre alt, auf derart lange Zeiträume waren unsere Experimente jedoch nicht ausgelegt. Bis zu dem Zeitpunkt, den wir untersucht haben, konnten wir Reversibilität beobachten. Ob es doch irgendwann einen Bruchpunkt gibt, wissen wir nicht.
Werden Sie weiter zum Thema Pth2 forschen?
Wir arbeiten momentan an Fischen in denen Pth2 deaktiviert ist und wir beobachten, ob dies Auswirkungen auf das Verhalten, bzw. auf die soziale Interaktion zwischen den Fischen, hat. Ein weiterer Fokus unserer Forschung ist das Schreckempfinden der Tiere, da dies durch soziale Isolation verstärkt zu werden scheint. Wir untersuchen, warum das der Fall ist.
Generell ist in vielen Spezies zu beobachten, dass bestimmte Verhaltensweisen durch Isolation ausgelöst oder verstärkt werden. Eine dieser Verhaltensweisen ist Aggression, eine andere wäre erhöhtes Angstempfinden. Noch weiß niemand, warum soziale Isolation diese Konsequenz hat und wenn wir zu einem besseren Verständnis dieser Frage beitragen könnten, wäre dies enorm hilfreich.
Was sind Ihrer Meinung nach die bemerkenswertesten Beobachtungen aus Ihrer Untersuchung des Pth2?
Zwei Dinge finde ich besonders interessant:
- Wir haben mit diesen Genen zum ersten Mal ein Molekül gefunden, welches quantitativ widerspiegelt wie viele Artgenossen in der Nähe sind. Dass so etwas existiert, war bisher nicht bekannt. Aus der Expressionsstärke dieses Gens erhält das Gehirn tatsächlich die Information, wie groß die Menge an Artgenossen in nächster Nähe ist.
- Die sensorische Modalität, über die die Artgenossen wahrgenommen wird, ist die mechanische Wahrnehmung. Wenn wir vom Menschen ausgehen, vermitteln wir viele soziale Reize visuell, jemandem beispielsweise in die Augen zu schauen, ist enorm informativ für uns. Ich glaube, vielen Menschen ist nicht klar, wie wichtig auch mechanische Interaktion ist, also einander zu berühren. Eine Wand anzufassen oder eine Hand zu berühren, mag auf einer rein physikalischen Eben recht ähnlich sein. Für unser Gehirn ist das jedoch etwas vollkommen anderes. Die Berührung durch andere hat eine komplett andere Bedeutung für uns – dies spiegelt sich auch in unserem Gehirn wider.